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Presse: Interview mit Boll "Ich haue mit mehr Schmackes drauf"

(Quelle: RP Online)

 

Düsseldorf. Timo Boll ist 16-maliger Tischtennis-Europameister, zweimal stand der 33-jährige Linkshänder an der Spitze der Weltrangliste. Der Topspieler des deutschen Rekordmeisters Borussia Düsseldorf gehört zu Deutschlands erfolgreichsten aktiven Sportlern.

 

Ehe wir es vergessen: Glückwunsch, Herr Boll!

 

Boll: Danke, darf ich fragen, wozu?

 

Dazu, dass Sie gerade Düsseldorfs Sportler des Jahres geworden sind. Bedeutet Ihnen das angesichts Ihrer zahlreichen Titel überhaupt noch etwas?

 

Boll: Es ist eine Anerkennung und eine Ehre. Gerade, weil es eine kombinierte Wahl von Fans und Sportjournalisten war. Ich bin aber niemand, der mit solchen Pokalen hausieren geht und deshalb große Feste feiert.

 

Düsseldorf ist seit 2007 Ihre sportliche Wahlheimat. Was verbindet Sie mit der Stadt?

 

Boll: Ich bin keiner, der sich oft verändern möchte, deshalb war es kein einfacher Schritt, aus meiner Heimat im Odenwald nach Düsseldorf zu gehen. Aber die Stadt hat mir sofort gefallen, und die Borussia hat es mir leicht gemacht. Ich habe mich hier sofort wohl gefühlt und schnell eine nette Wohnung gefunden. Und meine Frau genießt die Einkaufsmöglichkeiten, was mir manchmal den Angstschweiß auf die Stirn treibt.

 

Sie sind verheiratet und vor einem Jahr Vater geworden. Hat das Ihre Einstellung zum Beruf verändert?

 

Boll: Ich bin deshalb nicht weniger ehrgeizig oder weniger professionell. Ich werde immer noch kurz vor Schluss einer Partie nervös und ärgerlich, wenn es nicht läuft. Ich glaube, ich hatte auch im abgelaufenen Jahr keinen Leistungseinbruch. Ja, die ersten beiden Wochen als Vater waren eine Umstellung, danach ging es aber wieder nach oben.

 

Haben Sie nach der Geburt Ihrer Tochter etwas an Ihrem Trainingsrhythmus verändert?

 

Boll: Ich habe jetzt in Höchst einen privaten Fitnesstrainer, um möglichst wenig Fahrtzeiten zu haben. Wenn ich trainiere, dann kompakt, um den Rest des Tages mit meiner Familie zu verbringen. Schlechte Stimmung aus dem Sport nehme ich nicht mit nach Hause, ich werde dort schnell abgelenkt.

 

Ihr Lebensstil hat sich also verändert?

 

Boll: Mein Zeitmanagement hat sich deutlich verbessert. Ich versuche jetzt, mehr zu Hause zu sein. Wenn ich in Düsseldorf spiele, bin ich nicht mehr zwei Wochen vorher alleine hier, sondern habe die ganze Familie inklusive Hund dabei. Wir haben zwar ein großes Auto, aber manchmal passt kaum noch das Hundefutter hinein.

 

Was haben Sie denn für einen Hund?

 

Boll: Einen Jack Russell.

 

Na, der ist ja nicht ganz so riesig.

 

Boll: Zum Glück nicht.

 

Halten Sie die Familie auch bei Ihren Auslandseinsätzen zusammen?

 

Boll: Manchmal muss ich auch länger auf sie verzichten. In diesem Sommer beispielsweise, als ich in der chinesischen Super League gespielt habe, war ich ohne familiäre Begleitung. Das kommt aber nicht mehr so häufig vor, weil ich mich inzwischen auf die großen Turniere wie Olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften konzentriere. Die World Tour lasse ich fast komplett links liegen, wie zuletzt die Swedish oder Russian Open. Das gefällt auch meinem Arzt, der immer wieder fordert, ich solle mehr ökonomisieren.

 

Birgt das nicht Gefahr, in der Weltrangliste und damit in der Setzliste für die großen Turniere wie Olympia abzurutschen?

 

Boll: Meine Priorität ist es nicht mehr, noch einmal die Nummer eins der Weltrangliste zu werden. Das nehme ich hin. Klar will ich immer gewinnen. Dafür muss ich die Top-Leute schlagen, auch die besten Chinesen. Es ist aber egal, wann ich auf sie treffe.

 

Auch bei den nächsten Olympischen Spielen in Rio?

 

Boll: Wenn ich eine perfekte Vorbereitung habe und kerngesund bin, dann traue ich mir zu, gegen alle zu gewinnen. Ich fahre jedenfalls nicht nach Rio, um nur ins Viertelfinale zu kommen. Der World Cup in Düsseldorf hat mir gezeigt, dass ich auch gegen den amtierenden Olympiasieger und Weltmeister Zhang Jike aus China mithalten kann.

 

Ist die WM 2017, die ja voraussichtlich in Düsseldorf stattfindet ein besonders Ziel für Sie?

 

Boll: Diese WM zu spielen, hatte ich eh geplant. Ich denke, ich habe noch ein paar gute Jahre vor mir. Dass die WM jetzt wahrscheinlich in Deutschland und dann noch in meiner sportlichen Heimat ausgetragen wird, ist dennoch schön.

 

Beim World Cup sind sie Dritter geworden. Wie schaffen Sie das, da Sie ja der Forderung ihres Arztes nachgekommen sind und nicht mehr die großen Umfänge trainieren?

 

Boll: Bisher habe ich mich immer weiter entwickelt. Ich habe die Ballwege besser kennengelernt, weiß die Rotation besser einzuschätzen. Ich fokussiere mich jetzt auf die wichtigen Dinge im Spiel. Mein Spielsystem, die Struktur ist gefestigt. Die Struktur kann ich jederzeit abrufen. Ich bewege mich ökonomischer und habe deshalb eine höhere Leistungskonstanz. Klar kann ich mich nicht mehr so verbiegen wie mit 17 oder 18, obwohl ich Yoga mache. Manchmal tut es halt weh, aber das kann man wegstecken.

 

Bei Olympia in Rio 2016 werden Sie 35 Jahre alt sein. Sehen Sie das als Altersminus oder Erfahrungsplus?

 

Boll: Beides. Aber ich glaube, dass der 33-jährige Timo Boll unterm Strich besser ist als der 22-jährige, obwohl der die Nummer eins der Weltrangliste war. Ich versuche, meine Gegner mit mehr Variationen zu überfordern, das ist mein Ziel. Das gelingt aber nur, wenn man viel vorausdenkt, antizipiert und die Erfahrung hat. Vieles ist bei mir verinnerlicht und automatisiert.

 

Wurden diese Automatismen durch den Wechsel vom Zelluloid- auf den Plastikball zerstört?

 

Boll: Bei der Umstellung hat mir mein Talent geholfen. Ich kann mich schnell an solche Dinge gewöhnen und sie akzeptieren. Ich habe nicht gejammert, nach einer Woche war das Thema für mich durch und ich habe das Gute an dem Plastikball gesehen.

 

Was ist denn das Gute an dem neuen Spielgerät?

 

Boll: Ich kann den Ball besser kontrollieren, muss aber ein bisschen mehr Schmackes reinlegen. Der Plastikball nimmt etwas weniger Rotation an, deshalb haben viele gesagt, er sei schlecht für mein Spiel, weil ich viel über den Spin arbeite. Das Gegenteil ist der Fall.

 

Sind die neuen Bälle von der Qualität her schon mit dem durchgängigen Standard der Zelluloidbälle vergleichbar?

 

Boll: Der Plastikball ist noch nicht zu hundert Prozent ausgefeilt. Es gibt noch Produktionsvariationen. Aber bei der Europameisterschaft war es ein Genuss, mit dem Plastikball zu spielen. Er war besser als ein Zelluloidball.

 

Müssen sie sich demnächst nicht nur an den neuen Ball, sondern auch an neue Gegner gewöhnen? Sie haben ja schon mal gegen einen Roboter gespielt.

 

Boll: Wir haben uns tatsächlich am Tisch gegenüber gestanden und die Bewegungen gemacht. Aber es ist jetzt nicht wirklich alles so abgelaufen, wie es dann im Video zu sehen war.

 

Hat der Roboter denn den Ball getroffen?

 

Boll: Die Roboter-Bewegungen waren absolut sehenswert. Erstaunlich, wie schnell er reagiert hat. Der Roboter hat jedoch Probleme mit der Ballrotation. Das kann er noch nicht berechnen. Aber wer weiß, vielleicht in ein paar Jahren. Unabhängig davon, ist mir mal wieder bewusst geworden, zu welchen Leistungen das menschliche Gehirn fähig ist. Die schnelle Koordination von Auge und Bewegung ist faszinierend. Was der Mensch leisten kann, ist unfassbar.

 

Unfassbar ist ja auch die derzeitige Überlegenheit der Chinesen im Tischtennis. Bei den Herren gelingt es wenigstens Ihnen oder Dimitrij Ovtcharov noch, einen Top-Chinesen zu schlagen. Aber bei den Frauen scheint dies aktuell unmöglich zu sein. Droht Tischtennis an dieser Einseitigkeit zu zerbrechen?

 

Boll: Es wäre schön, wenn ein Nicht-Chinese mal wieder einen großen Titel holte. Doch das wird schwer. Sie haben sich in einer unglaublichen Breite entwickelt, sind mental gefestigt und können Druck aushalten. Egal was es ist, Material, Technik usw., überall haben die Chinesen Vorteile. Sie haben ein perfektes, optimales System entwickelt.

 

Wie sieht das aus?

 

Boll: Wenn man ab dem siebten Lebensjahr täglich drei bis vier Einheiten bei Toptrainern trainiert, die auch noch eine riesige Auswahl haben, dann hat man eine perfekte Maschinerie.

 

Kann Europa, kann Deutschland dagegen halten?

 

Boll: Nur, wenn es Ausnahme-Erscheinungen gibt. Bei Dimitrij Ovtcharov hat sein Vater früh mit Dimas Ausbildung begonnen, Michail Ovtcharov war selbst sowjetischer Nationalspieler. Bei mir ist ein ganzer Verein in meinen Wohnort gezogen. Das hat vieles erleichtert. Man braucht viel Talent, viele, die ein perfektes Umfeld garantieren. Und dann braucht man an einem guten Tag auch noch viel Glück, um die Chinesen schlagen zu können.

 

Die deutschen Tischtennisspieler werden ja immer wieder als die Chinesen Europas bezeichnet. Stimmt das?

 

Boll: Seit vielen Jahren stellt Deutschland die besten Spieler Europas. Ich denke an Jörg Roßkopf und jetzt natürlich Dima Ovtcharov. Dazwischen lag meine beste Ranglistenzeit. Toll wäre es gewesen, wenn wir alle zur selben Generation gezählt hätten, dann hätten wir uns gegenseitig pushen können. Aber wir profitieren auch so voneinander. Jörg Roßkopf gibt seine Erfahrungen als Bundestrainer weiter, und wenn ich mal - wie jetzt gerade wieder - eine Woche mit Dima auf höchstem Niveau trainiert habe, merke ich das. Aber solche Trainingssituationen haben die Chinesen jeden Tag.

 

Sie haben in der chinesischen Super League gespielt und sind wegen ihrer Siege gegen Spitzenspieler dort ein Held. Stimmt eigentlich die alte Geschichte, dass Sie auf chinesischen Straßen jeder erkennt?

 

Boll: Wenn ich in einer Stadt bin, in der ein Turnier stattfindet, werde ich schon erkannt. Es gab schon Situationen, in denen ich die Flucht ergriffen habe. Manchmal sieht mich zunächst nur einer, aber das geht dann rum wie ein Lauffeuer.

 

Chinesische Frauen habe sie sogar einmal zum "sexiest man alive" gekürt.

 

Boll: Wann war das nochmal? 2005, 2006? Es war auf jeden Fall eine unangenehme Situation für mich.

 

Werden Sie denn auch in Düsseldorf auf der Straße erkannt?

 

Boll: Ja, inzwischen schon. Aber in Restaurants oder Cafés setze ich mich immer in die hinterste Ecke und mit dem Rücken zum Raum. Ich bin halt eher ein scheuer Familienmensch.

 

Sportlich sind Sie in Düsseldorf ständig präsent. Borussia ist in Meisterschaft, Pokal und Champions League meistens sehr lange dabei, und in dieser Saison hat sie noch kein Spiel verloren.

 

Boll: Aber wir haben noch keinen Titel. Der Start war einwandfrei. Wenn mal einer aus dem Team ein Match verloren hat, sind eben die anderen eingesprungen. Alle sind klar im Kopf und wissen, was sie können. Wir haben einen ausgezeichneten Teamgeist und viel Ruhe. Niemand verfällt in Panik, wenn es mal nicht so läuft. Das gibt viel Selbstvertrauen, und das macht wiederum den Gegnern Angst.

 

Ihre persönlichen Einsätze für die Borussia sind jedoch vertraglich begrenzt.

 

Boll: Das freut wiederrum meinen Arzt, wegen seiner Forderung nach Ökonomisierung. Noch weniger Spiele für Borussia würde ich aber überhaupt nicht wollen. Als Vereinsspieler identifiziere ich mich voll mit meinem Klub, und ich muss den Fans auch die Gelegenheit geben, sich mit mir zu identifizieren. Und wie andere Sportler drei Monate Wettkampfpause am Stück machen? Das könnte ich gar nicht. Nach zehn, zwölf Tagen kribbelt es einfach wieder zu sehr.

 

Tino Hermanns und Bernd Jolitz führten das Gespräch.

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